Geklaute Wochen

Kapitel 1

Fabian hatte sich sehr gefreut, als seine Mutter ihm erlaubte, ein bisschen am Computer zu spielen. Immerhin war er mit den Matheaufgaben schnell und gut fertig geworden. Und er hatte versprochen, nachher noch eine Zeit lang Schreibübungen zu machen. Jetzt war die halbe Stunde am Computer schon wieder zu Ende, seine Mutter wollte mit ihrem Home Office weitermachen.

Erwachsene machen sich gern wichtig, dachte Fabian. Mama macht doch die gleiche Arbeit wie sonst auch, nur eben nicht im ihrem Büro, sondern zuhause. Warum heißt das dann Home Office und nicht einfach Zuhausearbeit? Wahrscheinlich soll es besonders kompliziert klingen damit es wie eine besonders tolle Leistung wirkt. Der Gipfel der Ungerechtigkeit war, ging Fabian durch den Kopf, dass es bei Kindern nur Schul- oder Hausaufgaben genannt wird. Er tat auch seit Wochen zuhause das Gleiche wie normalerweise in der Schule.

„O.k. Mama“, sagte Fabian, „dann mache ich jetzt auch wieder Home Office.“ Seine Mutter lachte laut und gab ihm einen Klaps auf die Schulter. „Dann mal los, Herr Direktor“, scherzte sie und setzte sich an den Schreibtisch.

Fabian trottete langsam Richtung Küchentisch, auf dem seine Schulsachen lagen. Im Grunde hasste er die Schreibübungen, es langweilte ihn, Zeile für Zeile immer den gleichen Buchstaben zu malen. Obendrein war seine Mutter ziemlich streng, wenn er sich dabei nicht wirklich Mühe gab. Andererseits fand er es immer echt cool, wenn der ältere Bruder seiner Freundin Antonia fast alles selber lesen und auch selber aufschreiben konnte. Man muss dann nicht dauernd andere Leute fragen. Der Bruder kommt bald in die fünfte Klasse, überlegte Fabian, bestimmt musste er das in der Zweiten genauso machen. Das will ich auch können, beschloss Fabian und öffnete sein Heft.

Fast zwei Zeilen hatte Fabian geschafft als Antonia wieder in seinen Gedanken auftauchte. Er schaute aus dem Küchenfenster und erinnerte sich, wie sie in den Ferien das letzte Mal zusammen spielen konnten. Farid und Jasmin waren damals dabei. Oh Mann, das ist ja schon… Er dachte einen Moment nach. Ach, weiß der Geier wie lange das schon her ist, ärgerte er sich. Seine Mutter hatte sich einmal mit Farids Eltern verabredet, so kamen sie gleichzeitig in die Schule, um Schulaufgaben abzugeben und neue Aufgaben mitzunehmen. Wenigstens eine Viertelstunde bekamen Fabian und Farid dadurch die Möglichkeit, sich wirklich zu sehen. Telefon und Computer sind ja schön und gut, meinte Fabian, aber auf die Dauer fehlt Farid mir richtig. Jasmin natürlich auch, die hatte er überhaupt noch nicht wieder gesehen, nur zwei Mal kurz mit ihr telefoniert. Bei Antonia war das genauso, bis sie ihm neulich beim Einkaufen über den Weg lief. Beinahe hätte er Antonia gar nicht erkannt mit dieser Maske vor Mund und Nase. Außerdem waren ihre Haare eindeutig länger als gewöhnlich. Gut, Fabian selbst konnte sich inzwischen fast einen Zopf machen. Schließlich waren die Friseurläden nicht nur für Mädchen geschlossen. Das störte ihn allerdings nicht im Geringsten, die mussten seiner Meinung nach nicht unbedingt bald wieder aufmachen.

„Na, Herr Direktor, wie laufen denn die Geschäfte?“ Fabian erschrak ein wenig, er hatte überhaupt nicht mitbekommen wie seine Mutter durch den Flur zur Küche gegangen war. „Naja“, druckste er herum, „ich habe noch nicht alles fertig.“ Das schlechte Gewissen plagte ihn etwas, er bekam einen roten Kopf. Seine Mutter sah sich das Heft an. „Das sieht doch wirklich gut aus. Warum hast Du denn nicht weitergemacht?“ Zum Glück klang ihre Stimme nicht vorwurfsvoll, eher neugierig. Fabian entschied sich, von seinen Gedanken zu erzählen. Zum Abschluss fragte er: „Mensch Mama, wie viele Wochen hat mir diese blöde Sache mit dem Virus schon geklaut?“ „Du warst zuletzt vor neun Wochen in der Schule“, antwortete sie, „aber die ersten beiden Wochen waren ja noch normal, also Ferien.“ Fabian spielte mit dem Bleistift an seinem Ohr, das tat er häufig, wenn er nachdachte. Es ging schnell, Rechnen mochte er ja. „Sieben“, stellte er fest, „neun minus zwei Wochen sind sieben Wochen. Voll ätzend, sieben geklaute Wochen.“

Fabians Mutter füllte den Wasserkocher um eine Kanne Kräutertee zu kochen. Mit einem Löffel Honig dazu mochte Fabian den Tee auch gern. „Sag mal“, erkundigte er sich, „erinnerst Du Dich an diese griechischen Sagen, die Du mir vorgelesen hast? Mit Herkules und Ikarus und den ganzen Göttern?“ „Na klar. Wie kommst Du jetzt darauf?“ fragte seine Mutter. Fabian holte zwei Becher für den Tee aus dem Schrank. „Ich weiß nicht mehr, ob es darin einen Gott der Zeit gab.“ Während sie das heiße Wasser in die Kanne goss meinte seine Mutter, sich an einen solchen Gott zu erinnern. „Ich glaube schon. Aber ich denke, es sollte vielleicht eine Göttin sein. Es heißt ja die Zeit, nicht der Zeit.“ Fabian schmunzelte. „Wäre mir egal. Ich würde nur gern die geklauten Wochen zurück bekommen. Man könnte mal fragen, ob die Göttin die Zeit einfach sieben Wochen zurück drehen kann. Dann gehe ich wieder in die Schule und Du musst nicht mehr dieses Home Office machen.“

 

Kapitel 2

In einem Krankenhaus kann man nicht im Home Office arbeiten. Fabians Vater arbeitete dort als Techniker. Es ist ja unheimlich wichtig, dass die vielen Geräte funktionieren. Deswegen musste sein Vater jeden Tag ganz normal dort hinfahren und kam auch an diesem Tag spät nachmittags wieder nach Hause. Es gab Abendessen, Fabian durfte noch ein wenig fernsehen und zuletzt spielten seine Eltern mit ihm Karten. Weil Fabian morgens nicht aus dem Haus zu gehen brauchte konnte er immer etwas länger im Bett bleiben. Daher erlaubten seine Eltern ihm meistens, abends ein bisschen später ins Bett zu gehen als gewöhnlich. Er war ja schon groß, naja, zumindest kein Baby mehr. Niemand musste ihn noch ins Bett bringen. Als es soweit war verabschiedete er sich im Wohnzimmer von seinen Eltern. Nach den Umarmungen lächelte seine Mutter ihn an. „Gute Nacht, Herr Direktor, schlafen Sie gut.“ Tatsächlich schlief Fabian an diesem Abend recht schnell ein.

„Hallo Fabian, ich freue mich, Dich kennenzulernen.“ Es war eine warme, freundliche Frauenstimme, die Fabian hörte. Allerdings konnte er zunächst niemanden sehen. Die Umgebung war ihm völlig fremd, trotzdem verspürte er keine Angst. Er stand am Ufer eines Flusses, eines sehr breiten Flusses, man konnte kaum das andere Ufer erkennen. Der Wind trieb kleine Wellen an den Strand. Ganz gleichmäßig, platsch, platsch, platsch, fast wie das Ticken einer Uhr. Gerade wollte Fabian sich fragen, wie er überhaupt hier her gekommen war, da wurde er erneut angesprochen. „Komm doch bitte ein bisschen näher. Soweit ich weiß möchtest Du doch gern etwas mit mir besprechen.“ Die Stimme kam von hinten, also drehte Fabian sich um.

Im ersten Augenblick war Fabian total überrascht, die Kinnlade fiel ihm herunter vor Erstaunen. Auf einem Baumstamm saß eine alte Dame, die seiner Oma unglaublich ähnlich sah. Die hatte er inzwischen auch seit vielen Wochen nicht besuchen können. Seine Oma hatte jedoch nicht so komische Striche im Gesicht, zum Beispiel einen oben auf der Stirn, genau oberhalb der Nase. Ein anderer Strich befand sich sozusagen gegenüber, unten am Kinn, zwei weitere neben den Ohren und noch mehrere dazwischen. „Hallo“, begrüßte Fabian die Dame, „Du hast Dich echt lustig geschminkt.“ Er ging drei Schritte auf sie zu, stand jetzt keine zwei Meter mehr von ihr entfernt. Sie beugte sich ihm noch ein Stück weiter entgegen. „Schau nochmal richtig hin, das Muster kennst Du bestimmt.“ Natürlich soll man andere Menschen nicht so anstarren, das ist unhöflich, überlegte Fabian kurz. Aber er war jetzt sehr neugierig und sie hatte es ihm geradezu aufgedrängt. Es dauerte einen Moment, dann kam ihm die Erleuchtung. „Oh Mann, klar, das sieht aus wie die Striche auf einer Uhr! Dann bist Du wohl so eine Art Uhr-Oma.“

Ups, da habe ich leider schneller geredet als nachgedacht, schoss es Fabian durch den Kopf. Besonders respektvoll war das jedenfalls kaum. Es ärgerte die alte Dame jedoch gar nicht. „Ein netter Spitzname“, erwiderte sie mit einem breiten Grinsen, „Du hast ein helles Köpfchen. Manche Leute nennen mich auch die Tic-Tac-Tante. Ich bin die Herrscherin der Zeit.“

„Wow“, platzte es aus Fabian heraus. Mehr fiel ihm spontan nicht ein, deswegen sagte er nochmal „Wow“. Die Herrscherin bot ihm an, sich neben sie zu setzen. „Also Fabian, Du hast eine Frage an mich, wenn ich das richtig mitbekommen habe.“ Diese Chance konnte Fabian sich nicht entgehen lassen. Er schilderte ihr sein Problem mit den geklauten Wochen, wie langweilig das oft war und dass es ihn manchmal sehr traurig machte. „Wenn Du die Zeit einfach sieben Wochen zurück drehst würde mir das alles erspart bleiben. Meinen Eltern und meinen Freunden natürlich ebenso, eigentlich sogar allen Menschen.“ Mit diesen Worten blickte er die Herrscherin erwartungsvoll an.

„Tut mir leid“, lautete die wenig erfreuliche Antwort. „Meine Aufgabe ist tatsächlich das glatte Gegenteil. Ich sorge dafür, dass an der Zeit nicht gedreht, geschraubt oder gefummelt wird.“ Fabian blickte resigniert zu Boden. „Oh sch…“, entfuhr es ihm, „sch…, ääh, schaaade“ Er musste einmal durchatmen, glücklicherweise war ihm noch ein anderes Wort mit „sch“ eingefallen als zuerst. Mit einer Hand deutete die Herrscherin jetzt auf den Fluss, die Andere legte sie auf seine Schulter. Sie begann zu erklären. „Nein, auch ich kann die Zeit nicht zurückdrehen. Es würde allerdings sowieso nichts bringen. Nur das gleiche Wasser würde noch einmal an mir vorbeiziehen, die gleichen Wellen kämen noch einmal an den Strand. Und an den Bäumen würden sich noch einmal die gleichen Blätter bilden.“ Fabian schaute auf zum Fluss, er brauchte eine Minute zur Ordnung seiner Gedanken. „Du meinst, vor sieben Wochen gab es diese Krankheit ohnehin schon?“ „Genau“, lobte ihn die Herrscherin, „und die Probleme wären dieselben. Alle Wissenschaftler, die nach einer Medizin forschen, müssten wieder fast von vorne anfangen. Und übrigens, all Deine Schulaufgaben hätte es noch gar nicht gegeben. Du müsstest das alles nochmal lernen.“ Bevor er sich angesichts dieser Erkenntnis erschrecken konnte wachte Fabian auf. „Wow“, sagte er, diesmal wirklich, denn er träumte ja nicht mehr.

Fabians Eltern staunten nicht schlecht, als er ihnen am Frühstückstisch von dem ungewöhnlichen Traum berichtete. Sein Vater fasste es zusammen. „Tja, es gibt keine geklauten Wochen, nur vergangene. Man gewöhnt sich daran, glaub mir.“ Seine Mutter spornte Fabian an, beim Frühstück nicht zu trödeln. „Wir wollen Deine fertigen Aufgaben zur Schule bringen. Neulich, im Supermarkt, habe ich mit Antonias Vater gesprochen. Die beiden sind heute um neun Uhr in der Schule, wenn Du ein bisschen Gas gibst kannst du Antonia dort treffen.“ Fabian sprang von seinem Stuhl auf und rannte in sein Zimmer um die Schultasche zu packen. „Noch was“, rief sein Vater hinter ihm her, „die Politiker sagen, wir dürfen ab morgen wieder auf den Spielplatz gehen. Wenn ich nachher zurück komme können wir Farid anrufen. Vielleicht hat er morgen Zeit für ein Treffen.“ Fabian bemerkte ein leichtes Herzklopfen vor Freude. Ganz sicher würde er Antonia beim Treffen in der Schule auch bitten zum Spielplatz zu kommen. Außerdem könnte sie Jasmin anrufen, dann wären endlich alle Vier mal wieder zusammen. Durch das Fenster seines Zimmers blickte Fabian rüber zu den Häusern, hinter denen der Spielplatz lag. Ja, dachte er, man kann sich wohl daran gewöhnen. Wahrscheinlich ist es wirklich besser, wenn immer neues Wasser den Fluss entlang fließt.

Ende                                                                                                                     R. Soire, Mai 2020

 

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